Von der Front zum Staat, die Frente POLISARIO und die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS)
Anfang der 1970er Jahre zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die franquistischen spanischen Kolonialherren nicht im Traume daran dachten, den von den Vereinten Nationen geforderten Dekolonisierungsprozess einzuleiten. Bassir Mohammed Ould Hash Brahim Ould Lebser, kurz Bassiri genannt, war Mitbegründer der „Avantgarde – Organisation für die Befreiung der Westsahara“. Ihre Forderungen waren äußerst moderat und sahen z.B. ein Mitspracherecht über die Nutzung der Bodenschätze vor. Die Organisation setzte auf eine Verhandlungslösung und stellte zumindest für eine Übergangszeit von zehn bis fünfzehn Jahre die außen- und verteidigungspolitische Verantwortung Spaniens überhaupt nicht in Frage.
Doch dem Kolonialregime waren selbst derartige moderate Forderungen ein Dorn im Auge. Über den Zulauf, den Bassiris Organisation erfuhr, waren sie bestens informiert. Durch eine gezielte Provokation sollte der Anlass geschaffen werden, die Gruppe um Bassiri auszuschalten. Am 17. Juni 1970 provozierte der spanische Gouverneur, General José María Pérez de Lema y Tejero, Proteste, die in Zemla, einem Vorort von El Aíun ein blutiges Ende nahmen: Mindestens zwölf Saharauis starben, alsFremdenlegionäre wahllos in die Menge schossen. Bis tief in die Nacht hetzten Polizei und Legion saharauische Demonstranten, eine Verhaftungswelle wurde auf sämtliche Städte der Kolonie ausgedehnt, über El Aíun der Belagerungszustand verhängt, die Kolonialtruppen in höchste Alarmbereitschaft versetzt und Kriegsschiffe vor der Küste zusammengezogen. Noch in der Nacht ergriffen die Spanier Bassiri; seither fehlt von ihm jede Spur.
Zunächst lief alles nach Plan und Drehbuch, wie es die franquistischen Kolonialmachthaber verfasst hatten. Aber die Morde von Zemla, die Zerschlagung der Gruppe um Bassiri und dessen „Verschwindenlassen“ breiteten sich wie ein Lauffeuer weit über die Kolonialgrenzen hinaus aus. Aus den Schüssen von Zemla erwuchs den Spaniern ein neuer, sehr ernst zu nehmender Gegner:
Am 10. Mai 1973 meldete sich eine Gruppe zumeist jüngerer Saharauis mit einem Aufruf zum bewaffneten Kampf zu Wort. Nach einem geheimen Treffen im kleinen Ort Ain Ben Tili an der Grenze zu Mauretanien gaben sie in einem ersten politischen Manifest die Gründung der Frente Popular para la Liberacíon de Saguia el Hamra y Rio de Oro, die Volksbefreiungsfront der beiden Landesteile, kurz Frente POLISARIO (FP), bekannt. Die Gruppe wählte ein Exekutivkomitee und den 25-jährigen Hochschulabsolventen El Quali Mustapha Sayed zu dessen Generalsekretär.
Nur 10 Tage später unternahm ein kleines FP Kommando unter der Leitung von El Quali eine erste militärische Aktion, die um ein Haar auch gleich die letzte hätte gewesen sein können: In der Nähe eines Postens einer von den Spaniern angeheuerten Hilfstruppe, Tropas Nomadas, im Nordosten des Saguia el Hamra, schlug am 20. Mai 1973 die kleine Kombattantengruppe ihr Lager auf. Im Schutze der Nacht wollten sie den Posten angreifen. Als El Quali mit einem Begleiter von einem nahe gelegenen Brunnen Wasser schöpfen wollte, wurden die beiden von einer Patrouille gestellt und als „verdächtige Jugendliche“ festgenommen. So gelangte El Quali nicht wie geplant, als siegreicher Eroberer nach El Khanga, sondern als Gefangener. Die übrigen Kombattanten entschlossen sich aber dennoch zum nächtlichen Angriff, was die kleine Garnison derartig überraschte, dass sie kampflos kapitulierte: El Quali wurde schließlich doch noch zum siegreichen Eroberer. Die saharauische Hilfstruppe der Spanier wurde entwaffnet, über die Ziele derFP aufgeklärt und sofort freigelassen, während das kleine Kommando, nun mit weitaus besseren Waffen als zuvor, in den Weiten der Wüste verschwand. Derartige Aktionen wurden im Laufe der beiden Jahre, in denen die Spanier noch im Lande verblieben, zur wesentlichen Bewaffnungsquelle der FP.
Doch warum erfolgte die Gründung der FP als Reaktion auf die Zerschlagung der Gruppe Bassiri und dessen „Verschwindenlassen“ nicht viel früher und erst drei Jahre später? Eine mögliche Erklärung liefern die Ereignisse in der Nacht vom 2. auf den 3. März 1973 in den Bergen Zentral-Marokkos. Anlässlich des 12. Thronfestes hatten die letzten Revolutionäre unter dem Kommando von Abdallah Nemri eine kleine Garnison bei Moulay Bou Azza angegriffen. Aber sie waren verraten worden und fielen dem königlich-marokkanischen Militär in die Hände, was für sie Folter und Tod bedeutete. Abdallah Nemri war in den fünfziger Jahren Kommandeur der nationalen Befreiungsarmee (Armée de Libération Nationale: ALN), die nicht nur für Marokko – und schon gar nicht für dessen König, sondern für einen großen, unabhängigen Maghreb von Rio de Oro bis Bengasi kämpfte. Im Januar 1958 kam es zu einer seltsamen Waffenbruderschaft: Mit Unterstützung des marokkanischen Königshauses wurde die ALN, der sich im Süden viele Saharauis angeschlossen hatten, von Spanien und Frankreich vernichtend geschlagen. Als Judaslohn bekam das Königreich das spanische Protektorat Süd-Marokko, das saharauische Gebiet zwischen dem Quad Draa und der heutigen Nordgrenze der Westsahara (27°40‘). Diese historischen Bindungen bestanden offensichtlich fort und fanden zumindest in der Gründungsphase der FP ihren Niederschlag.
Die immer noch kleine Kombattantengruppe bereitete dem spanischen Kolonialregime zunehmend Probleme: Am 20. Oktober 1974 zerstörte ein kleines Kommando die Steuerung des weltweit längsten Förderbands, mit dem noch immer Phosphatgestein aus der Mine Bu Craa zur Weiterverarbeitung und Verschiffung ins 100 km entfernte El Aiún transportiert wird. Mittlerweile liefen ganze Einheiten der Tropas Nomadas nicht nur mit Sack und Pack, sondern vor allem auch mit Waffen zur FP über. Nur zwei Tage vor der Einreise einer technischen Kommission der Vereinten Nationen zur Vorbereitung eines Referendums im Mai 1975 meuterte eine saharauische Einheit und tötete dabei einen spanischen Offizier; 14 Angehörige der Kolonialarmee gerieten in Gefangenschaft der FP.
Wichtiger als die militärischen Erfolge aber waren die politischen: Die besagte UN-Kommission stellte den großen Rückhalt, den die FP in der saharauischen Bevölkerung genoss fest. Mit den Resolutionen 34/37 vom 21. Nov. 1979 und 35/19 vom 11. Nov. 1980 hat schließlich die Generalversammlung der Vereinten Nationen die FP explizit als legitime Vertretung des saharauischen Volkes anerkannt. Bereits während ihres zweiten Volkskongresses vom 25. – 31. August 1974, der wie der erste im Untergrund stattfand, gab sich die FP ein „nationales Aktionsprogramm“, das „die nationale Befreiung von jeglicher Art von Kolonialismus und die Verwirklichung einer vollständigen Unabhängigkeit“ zum politischen Ziel erklärte. Mit dieser Formulierung wurde den sich abzeichnenden Annexionsgelüsten Marokkos und Mauretaniens eine klare Absage erteilt. Ausdrücklich werden „gleiche politische und soziale Rechte für Frauen“ gefordert. Am 26. Oktober 1975 organisierte die FP eine Großdemonstration in El Aiún gegen die unmittelbar bevorstehende marokkanische Invasion; und wenige Tage zuvor hatten traditionelle Autoritäten während der „Nationalen Konferenz der Einheit“ ihre Unterstützung für die FP erklärt. Zu diesem Zeitpunkt versicherte Spanien den Saharauis noch, dass es sich aktiv für ihr Selbstbestimmungsrecht einsetzen werde. Doch Spanien hatte sich auf Druck seitens Frankreichs und der USA bereits zur Übergabe „seiner“ Saharagebiete an Marokko und Mauretanien entschieden und sich diese Entscheidung durch langfristige Zugangsrechte über Phosphat und Meeresfisch vergüten lassen.
Die Invasionen durch Marokko und Mauretanien stellten eine neue, große Herausforderung für die ihren Gegnern militärtechnisch weit unterlegene Guerillero-Armee der FP dar: Aus der kleinen Kombattanten-Truppe wurde durch den aufgezwungenen Krieg nach eigenen Angaben bald eine der kampferfahrensten Armeen der Welt: Bereits 1979 musste sich Mauretanien aus dem Kriegsabenteuer zurückziehen. Der Preis für die militärischen Erfolge war enorm hoch an Menschenleben – unter ihnen der charismatische FP-Mitbegründer El QualiMustapha Sayed, der am 9. Juni 1976 einen Angriff auf Nouakchott nicht überlebte. Dennoch drohte bis 1981 Marokkos Ansinnen, nach dem Rückzug Mauretaniens das gesamte Territorium zu okkupieren, hoffnungslos zu scheitern.
Eine große Herausforderung stellte für die Organisation der Exodus der saharauischen Bevölkerung dar, die vor allem aus den Städten vor den Invasoren sich im Osten des Landes in Sicherheit zu bringen versuchte. Doch bombardierte die königlich-marokkanische Luftwaffe die wehrlosen Flüchtlinge – zumeist Frauen, Kinder und alte Menschen – in den provisorischen Zeltstädten mit Napalm und Phosphor: Die Oase Um Draiga wurde im Februar/März 1976 zum saharauischen Guernica, das aber von keinem Picasso je gemalt wurde! Wenn Algerien seine Grenzen für die Flüchtlinge nicht geöffnet, ihnen Zuflucht und Schutz verweigert hätte, hätte die Welt vermutlich einem Genozid sprachlos zugeschaut.
Bis zum 26. Februar 1976 befand sich die Westsahara – völkerrechtswidrig, aber faktisch – unter dreigliedriger Verwaltung sowohl Spaniens, Marokkos und Mauretaniens, sodass auch Spanien für die Gräueltaten, die bis zu diesem Zeitpunkt an der saharauischen Bevölkerung begangen wurden, mit verantwortlich ist.
Am 27. Februar 1976, einen Tag nachdem der letzte spanische Soldat das Land verlassen hatte, rief die FP in der befreiten Oase Bir Lehlú die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus: Mittlerweile ist der saharauische Exilstaat von etwa 80 Staaten anerkannt – darunter selbst von Mauretanien (am 27. Febr.! 1984), dem einstigen Kriegsgegner – und seit 1984 offizielles Mitglied der OUA und damit auch dessen Nachfolgeorganisation, der Afrikanischen Union (AU). In Konsequenz hat Marokko die OAU verlassen und blieb fortan auch konsequenterweise der AU fern.
Nach dem Tod El Qualis wurde Mohamed Abdel Azis, „ein anderer Kommandeur der ersten Stunden“, während des dritten Volkskongresse im August 1976 als Nachfolger zum Generalsekretär der FP gewählt, der laut Verfassung auch gleichzeitig Präsident der jungen Republik ist. In beiden Funktionen ist er bisher von jedem Volkskongress bestätigt worden. Während die Männer im wehrfähigen Alter weiter an den Fronten im eigenen Land kämpften, war es vor allem an den Frauen, Gesellschaft und Staat im algerischen Exil aufzubauen: Sie sind es, die das tägliche Leben und Überleben auf der unteren Verwaltungsebene in den Daira-Volkskomitees (Bildung & Erziehung, Gesundheit, Justiz & Soziales, Produktion und Versorgung) organisierten. Studierende, die in den Ferien aus befreundeten Ländern vor allem Algerien und Cuba zurückkehrten, unterrichteten die Erwachsenen, sodass eine Alphabetisierungsquote von nahezu 100% der Lagerbevölkerung erreicht wurde. In Marokko liegt die Quote knapp über 50%, bei einem Frauenanteil von weniger als 40%!
Der junge Staat orientierte sich zunächst an einem basis-demokratischen, sozialistischen Rätesystem mit den beiden Parallelstrukturen Partei (FP als eine Art Staatspartei) sowie Staat und Verwaltung nach dem Leitbild einer egalitären Gesellschaft. Der beiderseitige Waffenstillstand 1991 und der anschließende politische Stillstand bei der Umsetzung des Selbstbestimmungsrechtes der Saharauis und der Dekolonisation der Westsahara bedeuteten einen tiefen Bruch für die Lagergesellschaft. Durch die Auszahlung der Rentenkassenbeiträge an Saharauis, die Rentenansprüche in Spanien wegen ihrer Beschäftigung in der Kolonialverwaltung erzielt hatten, erreichte plötzlich die Geld- und Warenwirtschaft die Lagergesellschaft und führte zur wirtschaftlichen Ungleichheit.
Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Ostblocks orientierte sich der Exilstaat zunehmend an den Strukturen westlicher Demokratien und deren Form von Gewaltenteilung. Durch Unterorganisationen als Interessenvertretungen bestimmter Bevölkerungsgruppen innerhalb der FPwurde der basis-demokratische Charakter nie aufgegeben, sondern weiter verfolgt: So wurde die nationale Frauenvereinigung (Unión Nacional de Mujeres Saharaui: UNMS) bereits Ende 1974 – also noch unter spanischer Kolonialzeit – gegründet; 1984 die Jugendvereinigung (Unión de la Juventud de SAguia el Hamra y RIo de Oro: UJSARIO); 2010 (?) löste sich die saharauische Studierendenvereinigung (Unión de Estudiantes de SAguia El-Hamra y RIo de Oro: UESARIO) als eigenständige Interessenvertretung der Studierenden. Vor dem Hintergrund der Unfähigkeit der UNO, den Saharauis zu ihrem Selbstbestimmungsrecht zu verhelfen, machte sich vor allem die UESARIO während des 13. Volkskongresses Ende 2011 für die Aufkündigung des Waffenstillstandes stark. Bisher ist diese Position glücklicherweise [noch?] nicht mehrheitsfähig.
Im Zusammenhang mit dem „Arabischen Frühling“ war oft davon die Rede, demokratische Kräfte in der Region zu unterstützen. Die Frente Polisarioist eine der ältesten Demokratiebewegungen im Maghreb und hätte diese Unterstützung schon längst verdient. Stattdessen aber macht Europa weiter „Realpolitik“, die zwangsläufig den Maghreb, ja den gesamten Norden Afrikas weiterhin destabilisiert und zwangsläufig in die große Katastrophe steuern wird.
Angaben nach:
GOLDAU, A. (2005): Zeitensprung│17. Juni 1970 – Ein blutiger Tag in der franquistischen Sáhara Español; INAMO Nr. 43: 52; Berlin
RÖSSEL, K. (1991): Wind, Sand und (Mercedes-) Sterne; Bad Honnef/Unkel: pp. 142f
TIEDJEN, J. (2013): Zeitensprung│02. auf den 03. März – Marokkanische Passion; INAMO Nr. 76: 69 – 71; Berlin
Fotos:Frente POLISARIO