Hintergründe des Kriegsausbruchs 2020

Nach 29 Jahren wird der Waffenstillstand zwischen Marokko und der Frente Polisario am 13. November 2020 in der Westsahara gebrochen. Der militärische Einmarsch Marokkos in die Pufferzone von Guerguerat ist ein Verstoß, der die Wiederaufnahme des bewaffneten Konflikts auslöst.

Im Folgenden wird auf Basis des Beitrags von Elli Gorz Guerguerat – Chronik eines Versagens der politische Hintergrund des Konflikts nachgezeichnet sowie die Rolle der UN, und die jüngste Entwicklung der Eskalation im Herbst 2020 beschrieben.

Im Weiteren skizzieren wir die ökonomischen und politischen Expansions-bestrebungen Marokkos, gehen auf die ökonomischen und (migrations-)politischen Interessen der EU ein und verweisen auf den völkerrechtswidrigen Vorstoß der USA im Dezember 2020.

Gliederung:

  • Waffenstillstand 1991, Rolle der UN und anhaltende Besatzung Marokkos
  • Auseinandersetzungen um den Grenzübergang Guerguerat seit zwei Jahrzehnten
    • Durchbruch der Grenzmauer und Ausbau der Handelsroute
    • Zivile sahrauische Straßenblockaden bei Guerguerat seit 2017
    • Abfolge der Ereignisse und ihrer schrittweisen Eskalation im Herbst 2020
    • Bau einer neuen Mauer in der Pufferzone
  • Marokkos Expansionspolitik und Wirtschaftsinteressen
  • Handels- und grenzpolitische Interessen der EU
  • Völkerrechtswidriger Vorstoß der USA

Landkarte 1 der Westsahara. Die rote Linie zeigt den Grenzwall, die blauen Linien die alte marokkanischen Verteidigungsgrenzwälle. Die blauen Kreise zeigen die Häfen. © Elli Lorz.


Waffenstillstand 1991, Rolle der UN und anhaltende Besatzung Marokkos

Nach 16 Jahren Krieg zwischen Marokko und der Polisario-Front wurde 1991 ein Waffenstillstand unterzeichnet, der dem Zweck dienen sollte, ein Referendum zu organisieren. Die UN wurde beauftragt, das Referendum zur Selbstbestimmung des sahrauischen Volkes vorzubereiten und zu organisieren (MINURSO, Mission der Vereinten Nationen für das Referendum in der Westsahara). Dieses Referendum, für 1992 geplant, sollte die Bevölkerung der Westsahara in die Lage versetzen, zwischen den beiden Optionen Unabhängigkeit oder Integration in den Staat Marokko zu wählen.

Das Mandat der MINURSO beinhaltet:

  • Organisation und Gewährleistung eines freien und fairen Referendums und Verkündung der Ergebnisse
  • Identifizierung und Registrierung qualifizierter Wähler*innen
  • Überwachung des Waffenstillstands
  • Verifizierung der Reduktion der marokkanischen Truppen auf dem Territorium
  • Überwachung der Ausgangssperre der marokkanischen und sahrauischen Truppen an bestimmten Orten
  • Einleitung eines Prozederes mit den Konfliktparteien, um die Freilassung aller politischen Gefangenen oder Inhaftierten in der Westsahara sicherzustellen
  • Überwachung des Austauschs von Kriegsgefangenen (Internationales Komitee vom Roten Kreuz)
  • Umsetzung des Rückführungsprogramms

(Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen)

Als Teil des Waffenstillstands wurde 1997/1998 ein Militärabkommen zwischen den drei Parteien MINURSO, Frente Polisario und den Königlich-Marokkanischen Streitkräfte unterzeichnet. Das Militärabkommen Nr. 1 grenzt die Verteilung der beiden Armeen und die Sperrzonen auf dem Territorium ein.

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Landkarte 2 Struktur der Sperrzonen; Teilung des Territoriums durch die Militärmauer. Karten erstellt von MINURSO. Quelle: https://sandanddust.wordpress.com/tag/map/

Diese vorübergehende Teilung des Territoriums basiert auf der Abgrenzung der Militärmauer, die Marokko in den 1980er Jahren zum Schutz jenes Gebietes errichtete, das es als „nützlich“ (Phosphatvorkommen) betrachtete. Im Militärabkommen ist ebenso festgelegt, dass jedwede Militärpräsenz beider Parteien in der Pufferzone verboten ist. Die Mauer wurde ständig erweitert und ist heute 2.700 km lang (siehe Landkarte 1).

Ungeachtet der Abkommen und Vereinbarungen besteht seit 1991 jedoch ein Status quo, der es der marokkanischen Besatzung erlaubt, unter Missachtung des Völkerrechts, im besetzten Gebiet der Westsahara Fakten zu schaffen. Die Besatzung, die in das Jahr 1975 zurückreicht, ist bemüht, eine “Normalisierung” und Legitimierung der Verhältnisse herzustellen. Zahlreiche bilateralen Kooperationsabkommen zwischen Marokko und westlichen Ländern unterstützen die Akzeptanz des Status quo. Besonders relevant sind dabei die wirtschaftlichen Abkommen zwischen der EU und Marokko, die die illegale Ausbeutung der Ressourcen der Sahara erlauben (Details WSRW).

Marokko profitiert somit von seiner Blockade des Friedensprozesses und setzt auf Zeit.

Die UN bleibt weitgehend untätig bzw. nimmt die Expansionsschritte Marokkos zur Kenntnis. Marokko kann somit mit illegalen Maßnahmen fortfahren: die Entwicklung der Infrastruktur auf dem Territorium, die massive marokkanische Besiedlung und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen.

Der Überblick der Berichte des UN-Generalsekretärs zwischen 1990 und 2020 zeigt das fortschreitende Entgleiten dieser UN-Mission bzw. den wachsenden Einfluss Marokkos bzw. Frankreichs auf die UN-Resolutionen. Es verschwindet die Erwähnung eines Referendums gänzlich aus den Resolutionen, wie zuletzt in der Resolution vom 30. Oktober 2020 ersichtlich. Die Rolle der MINURSO ist in den letzten zehn Jahren auf die Auflistung von Verletzungen des Waffenstillstands beschränkt, ohne wirkliche Interventionsmöglichkeit vor Ort bei Menschenrechtsverletzungen, ohne Berücksichtigung der marokkanischen Siedlungspolitik und der Ausbeutung von Ressourcen – Faktoren, die sich direkt auf die Lösung des Konflikts auswirken.


Auseinandersetzungen um den Grenzübergang Guerguerat seit zwei Jahrzehnten

Landkarte 3 Sperrgebiet und Pufferzone im Gebiet von Guerguerat © Elli Lorz

Landkarte 4 Marokkanische Grenzverletzungen von 2001 bis 2020 im Gebiet von Guerguerat © Elli Lorz

2001 berichtet der UN-Generalsekretär, dass die marokkanische Armee den Bau einer asphaltierten Straße durch die Pufferzone von Guerguerat plant. Dabei warnt die UN Marokko, dass „der vorgeschlagene Bau heikle Probleme aufwirft und dass einige der unternommenen Aktivitäten gegen das Waffenstillstandsabkommen verstoßen könnten“. Im folgenden Bericht vom Juni 2001 heißt es: „verschiedene Zeichen, die auf eine Wiederaufnahme der Arbeiten hindeuten, haben die MINURSO und mehrere Mitgliedstaaten bewogen, mit den marokkanischen Behörden Kontakt aufzunehmen und sie zu ersuchen, die Bauarbeiten an dieser Straße erneut auszusetzen“. In den folgenden UN-Berichten wird Guerguerat nicht mehr erwähnt.

Erst mit dem Bericht von 2017 wird die angespannte Lage zwischen Marokko und der Frente Polisario ausführlich dargelegt. Im August 2016 drangen marokkanische Sicherheitskräfte in die Pufferzone ein, um den Bau einer Straße, die zum mauretanischen Grenzübergang führt, zu überwachen. Streitkräfte der Frente Polisario griffen ein, um den Bau zu stoppen. Beide Seiten haben damit das Militärabkommen Nr. 1 verletzt, wobei das Handeln der Frente Polisario lediglich eine Reaktion auf das Vorrücken marokkanischer Sicherheitskräfte darstellte. Diese angespannte Konfrontation dauerte bis Februar 2017 an und wurde von der UN deeskaliert. Das Argument der Frente Polisario bezüglich ihrer dauerhaften Präsenz in der Pufferzone bestand hauptsächlich darin, Druck auf die MINURSO ausüben zu wollen, damit diese gegen den Durchbruch der Militärmauer protestiert, indem sie „eine Lösung fordert, die über eine bloße Aufzeichnung der Verletzungen hinausgeht“ (siehe Bericht des UN- Sicherheitsrates von 2017 zur Westsahara).

Es ist schwierig, genau zu rekonstruieren, wann dieser Durchbruch in der Militärmauer erfolgt ist. Die MINURSO ist angesichts der Vielzahl an Verletzungen des Militärabkommens Nr. 1 auf beiden Seiten, der begrenzten Anzahl von Militärbeobachter*innen und von Stützpunkten in einem sehr großen Zuständigkeitsbereich vor Ort seit langem überfordert. Während der gesamten Präsenz erreichte die MINURSO nie den vorgesehenen Personalstand. Im Bericht des UN-Generalsekretärs vom April 2005 werden selbstkritisch Schwächen eingeräumt.

Im Jahr 2005 zeigen Satellitenaufnahmen, dass Marokko die Nationalstraße zwischen Dakhla und Guerguerat saniert hat, die Militärmauer tatsächlich durchbrochen wurde, um einen

(illegalen) Durchgang nach Mauretanien zu schaffen, ein marokkanischer Zollposten gebaut wurde und der mauretanische Grenzposten in der Pufferzone der Westsahara liegt.

Bis Januar 2002 war die Durchfahrt von Dakhla nach Nouadhibou nur zweimal wöchentlich möglich gewesen. Die Durchfahrt wurde im Rahmen eines Militärkonvois (zuerst marokkanisch, dann mauretanisch) durchgeführt. Der Konvoi campierte nachts in einem Militärlager in Guerguerat. Der Mangel an Teer auf der mauretanischen Seite schränkte bis 2005 den Straßenbau ein – die Fahrt von Guerguerat bis Nouadhibou dauerte einen Tag.

Ab 2005 verfolgte Marokko den Plan, diese Landesgrenze zu einer “Handelsader” in Richtung Subsahara-Afrika zu entwickeln. Das Militärabkommen Nr. 1 betrifft keine zivilen Aktivitäten und verbietet daher Zivilist:innen nicht, die Pufferzone zu betreten. Hingegen der Durchbruch der Militärmauer sowie der Einsatz von Truppen in der Pufferzone stellt eine Verletzung dar.


Zivile sahrauische Straßenblockaden bei Guerguerat seit 2017

Seit 2017 kommt es in diesem Gebiet sehr häufig zu Straßenblockaden durch sahrauische Zivilist:innen. Die Straßenblockaden dauern von einem Tag bis zu mehreren Wochen. Die Blockaden sind Anlass großer Spannungen zwischen den sahrauischen und mauretanischen Händlern, Reisenden aus Subsahara-Ländern, Lastwagenfahrern und der marokkanischen Polizei. Die Polizei greift in der Pufferzone regelmäßig in Zivilkleidung (d.h. nicht als Polizei erkennbar) ein, um Überwachungen, Gewalttaten oder Entführungen durchzuführen.

Die MINURSO-Truppen sind in der Pufferzone nur begrenzt präsent. In Ermangelung eines Stützpunktes in der Pufferzone übernachten sie in einem Hotel 80 km nördlich (an der N1 bei Bir Gandouz). Infolgedessen haben die marokkanischen Behörden freie Hand, illegal vorzugehen.

Seit mehreren Jahren kritisiert die Frente Polisario den Durchbruch der Militärmauer als eine Verletzung des Abkommens. Die UN reagierte darauf nicht. Zudem ist seit dem Rücktritt des Persönlichen Gesandten Horst Köhler im Mai 2019 der Posten bei der MINURSO unbesetzt, was zur weiteren Untätigkeit der UN beiträgt.

Die jüngsten Berichte des Generalsekretärs sind unausgewogen (ein Punkt, den Russland und Südafrika im UN-Sicherheitsrat unterstrichen haben). Die Selbstbestimmung und das unveräußerliche Recht der Saharauis werden zugunsten eines „für beide Seiten akzeptablen Kompromisses“ diskreditiert, eine Terminologie, die im Falle einer Entkolonialisierung ungeeignet ist (siehe Resolution vom 30. Oktober 2020).

Der 13. November 2020 markiert somit eine Zäsur, da die Führung der Frente Polisario der Ansicht ist, dass sie keine andere Wahl hat, als erneut zu den Waffen zu greifen, um die Achtung der Rechte des sahrauischen Volkes auf Selbstbestimmung durchzusetzen.


Abfolge der Ereignisse und ihrer schrittweisen Eskalation im Herbst 2020

Die Ereignisse, die dem 13. November 2020 vorausgehen, sind insofern beispiellos, als die friedliche Mobilisierung der Zivilgesellschaft an verschiedenen Fronten stattfindet (besetztes Gebiet, Flüchtlingslager, Gebiet unter der Kontrolle der Polisario) und von der sahrauischen Bevölkerung in großem Ausmaß getragen wird, so dass eine Rückkehr zur vorangegangenen Situation schwierig sein wird.

Am 20. September (zehn Jahre nach dem sahrauischen Protest im Zeltlager Gdeim Izik) trafen sich etwa dreißig Aktivist:innen heimlich in Laayoune, um die Dachorganisation ISACOM (Sahrauische Instanz gegen die marokkanische Besatzung) ins Leben zu rufen.

Auf der anderen Seite der Mauer verließen am 23. September Dutzende von Zivilist:innen die Flüchtlingslager von Tindouf mit dem Ziel, in der Region Guerguerat auf unbestimmte Zeit den

Durchgang zu versperren. Ungefähr 1.500 km Weg auf vermintem Gebiet trennten sie von dieser Pufferzone. Die Blockade sollte zunächst mit der 75. Sitzung der UN- Generalversammlung zusammenfallen, gefolgt von der Erneuerung des Mandats der MINURSO im UN-Sicherheitsrat – das erklärte Ziel war eindeutig, Druck auf die UN auszuüben.

Am 10. Oktober ließ sich ein Dutzend Sahrauis in der Pufferzone nieder. Am 12. Oktober traf eine zweite Gruppe von Demonstrant:innen aus den Flüchtlingslagern ein, der später eine weitere Gruppe folgte.

Parallel dazu fanden Sitzstreiks direkt an der Mauer statt, am 19. Oktober in der Nähe von M’Hiriz und am 21. Oktober in der Nähe von Bir Lahlou (Gebiete unter der Kontrolle der Frente Polisario). Dutzende von Männern und Frauen demonstrierten dort mit Fahnen vor dem marokkanischen Militär (an der Mauer sind etwa 100.000 marokkanische Soldaten auf Hunderte von Beobachtungsposten verteilt. Das Gebiet um die Mauer herum ist vermint).

Die vollständige Blockade des Durchgangs durch die Pufferzone begann am 21. Oktober und wurde von friedlichen Demonstrationen mit Forderungen an die UN und die EU begleitet:

  • die Schließung dieses Durchbruchs der Mauer
  • das Ende der Ressourcenausbeutung
  • die Organisation des Referendums über die Selbstbestimmung (und das Ende des Status quo).

Die Blockade der sahrauischen Zivilist*innen zeigte rasch Wirkung und etwa hundert marokkanischen Lastwagen mit Fisch-, Obst- und Gemüselieferungen auf beiden Seiten der Grenzposten saßen fest.

Am 21. Oktober sprach sich der Sprecher des UN-Generalsekretärs parteilich für Marokko aus: „Wir bekräftigen, dass der reguläre zivile und kommerzielle Verkehr (in Guerguerat) nicht behindert werden darf und dass keine Maßnahmen ergriffen werden dürfen, die eine Änderung des Status quo in der Pufferzone von Guerguerat darstellen könnten“. Jeden Abend fanden in den besetzten Gebieten trotz anhaltender Polizeigewalt und Verhaftungen spontane Demonstrationen statt.

Am 6. November drang marokkanische Militärverstärkung in das Sperrgebiet von Guerguerat ein und nahm Stellungen an der Mauer ein. Die Frente Polisario wies die MINURSO auf diese Verletzung des Waffenstillstands hin, die ihrerseits diese eindeutige Verletzung des Abkommens zunächst stillschweigend beobachtet und hingenommen hat. Kritik an Marokko blieb auch von der UN aus.

In den Flüchtlingslagern in Algerien mobilisierte die Bevölkerung Demonstrationen gegen die marokkanische Besatzung.

Am 9. November warnte die Frente Polisario in einem Kommuniqué, dass „der Eintritt eines marokkanischen militärischen, sicherheitspolitischen oder zivilen Elements“ in die Pufferzone als „eine flagrante Aggression“ betrachtet werden würde, „auf die die sahrauische Seite in Notwehr und zur Verteidigung ihrer nationalen Souveränität energisch reagieren wird“.

Der französische Außenminister Le Drian äußert während seines Besuchs in Marokko am 9. und 10. November öffentlich seine Besorgnis über die Blockade dieses Grenzübergangs und erinnert an die Bedeutung des freien Waren- und Personenverkehrs in der Region. Frankreich nehme die von Marokko ergriffenen Maßnahmen zur Kenntnis. Frankreich begrüße das Engagement Marokkos für den Waffenstillstand. Dieser müsse bewahrt werden, so wie der politische Prozess im Rahmen der Vereinten Nationen wiederbelebt werden müsse.

Mit dieser Erklärung wird der freie Handelsverkehr über das Rechts der Sahrauis, ihre Zukunft frei zu bestimmen, gestellt. Die rhetorische Betonung der „Verpflichtung Marokkos auf den

Waffenstillstand“ trägt dazu bei, die direkte Verantwortung Marokkos für die Wiederaufnahme des bewaffneten Konflikts zu verschleiern.

Am 11. November fand vor dem MINURSO-Hauptquartier in Mijek (von der Polisario kontrolliertes Gebiet) eine Demonstration statt, bei der das Referendum über die Selbstbestimmung gefordert wurde.

Am 12. November demonstrierten Menschen in mehreren sahrauischen Flüchtlingslagern in Algerien (Rabouni, El Aaiún) gegen die marokkanische Besetzung. Eine Demonstration forderte “Freiheit oder Krieg”.

Am 13. November drangen marokkanische Streitkräfte in die Pufferzone ein, um die friedlichen sahrauischen Demonstrant:innen zu vertreiben. Die Wiedereröffnung des „zivilen und kommerziellen Durchgangs“ wird zur Rechtfertigung der militärischen Operation benutzt (das von Marokko unterzeichnete Militärabkommen Nr. 1 legt allerdings fest, dass in der Pufferzone militärische Präsenz und Aktivitäten verboten sind).

Das Militär der Polisario intervenierte, um die Demonstrant:innen in Sicherheit zu eskortieren. Die Frente Polisario erklärte den Waffenstillstand für beendet, da Marokko zum wiederholten Male trotz Warnung das Waffenstillstandsabkommen mit mehreren Durchbrüchen der Mauer und dem Militäreinsatz in der Pufferzone verletzt habe.

Die sahrauische Armee feuert seitdem täglich auf militärische Stützpunkte Marokkos entlang der Mauer. Die sahrauische Armee rekrutiert Freiwillige. Die marokkanische Armee bekundet, sich nach der militärischen Sicherung von Guerguerat an den Waffenstillstand zu halten. Über Opfer und Schäden gibt es keine bestätigten Informationen seitens der Konfliktparteien bzw. der MINURSO.


Bau einer neuen Mauer in der Pufferzone

Das marokkanische Militär baute unmittelbar nach der Sicherung des blockierten Straßenabschnitts in der Pufferzone einen weiteren befestigten Sand-/Lehmwall, der wiederum durch Minen gesichert sein soll. Erstmalig wurde dieser Wall am Tag nach dem Beginn des Militäreinsatzes in den Medien von al jazeera mit Videoaufnahmen dokumentiert. Mittlerweile haben sowohl die Frente Polisario als auch die marokkanische Regierung diesen Bau bestätigt.

Dieser Wall verläuft nicht parallel zur Straßenführung, sondern verbindet in einer Diagonale die Grenzkontrollstelle Mauretaniens mit dem Kontrollposten 23 Marokkos am Berm, ca. 1,5 km östliche des Mauerdurchbruchs (siehe Landkarte 3).

Mit diesem Wall verändert Marokko faktisch eigenmächtig ein wesentliches Element des Waffenstillstandsabkommens: die Vereinbarung über die territoriale Kontrolle durch die Konfliktparteien. Marokko kontrolliert nun einen weiteren Bereich auf dem Gebiet der Westsahara und verhindert, dass die Polisario Zugang zu dem nach dem Abkommen von ihr kontrollierten Gebiet am Atlantik behält. Marokko schafft an der umstrittenen Handelsstraße einen direkten Grenzpunkt des von ihm kontrollierten Gebietes mit Mauretanien. Weder die UN noch die EU haben sich bisher dazu kritisch geäußert.

Sollte Marokko seine Truppen zudem auf der Halbinsel bei Lagouira stationieren und die Ortschaft in lukrativer Küstenlage mit Hafenanlagen ausbauen, wird dies Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation von Nouadhibou, Mauretaniens zweitgrößter Stadt mit dem größten Hafen des Landes, haben. Die Orte liegen nur 15 km voneinander entfernt.

Während Lagouira direkt am Atlantik liegt, zieht sich Nouadhibou entlang der dem Kontinent zugewandten Seite der Halbinsel.


Marokkos Expansionspolitik und Wirtschaftsinteressen

Die Besetzung der Westsahara und die nun erfolgte Aneignung der Guergueratzone durch den Bau einer Mauer wie auch die Straßendurchführung folgen den außenpolitischen Prämissen Marokkos:

Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 prägt die sogenannte „Großmachtkonzeption“ die Außenpolitik Marokkos. Konkret bedeutete dies, daß Marokko Ansprüche auf die gesamte Westsahara (ehemals Spanische Sahara), ganz Mauretanien, den Nordwestteil Malis mit Timbuktu sowie große Teile der Westregion Algeriens mit dem Tindouf-Bergland erhob.

Marokko forderte im Rahmen des Dekolonalisierungsprozesses, dass ihm diese Gebiete zurückgegeben werden, weil sie historisch zu seinem Staatsgebiet gehören würden, da sie vor der Kolonisierung unter der Herrschaft der Sultane von Marokko gestanden hätten. Bezogen auf die Westsahara hat der Internationale Gerichtshof 1975 geurteilt, dass die Beziehungen der nomadischen Sahrauis zu den Sultanen von Marokko keine Ansprüche auf das Gebiet rechtfertigten.

Die marokkansichen Ansprüche belasteten vor allem das Verhältnis zu Algerien. Im Oktober 1963 führten Marokko und Algerien einem einmonatigen Krieg um die Region bei Tindouf. Erst die Vermittlung der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) konnte erreichen, dass die Grenzziehung zwischen beiden Ländern entsprechend der ehemaligen kolonialen Aufteilung akzeptiert wurde. Die Spannungen bleiben bestehen und beziehen sich seit der Besetzung 1975 auf den Westsaharakonflikt.

Mit Hilfe seiner wirtschaftlichen Macht schafft es Marokko zunehmend, schwächere Staaten zu politischen Zugeständnissen seiner Okkupationspolitik zu bewegen. So eröffnete seit November 2019 eine Reihe afrikanischer (und kürzlich auch arabischer) Staaten Konsulate in der besetzten Westsahara und erkennt diese damit faktisch als marokkanisches Hoheitsgebiet an.

Die Handelsstraße, die Marokko durch besetztes Territorium und die Pufferzone nach Mauretanien führt, ist von polit-ökonomischer, strategischer Bedeutung: Sie ist ein wichtiger Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung der Region, in der Marokko als Regionalmacht seinen Einfluß ausbaut. Nach Information des marokkanischen Ministeriums für Wirtschaft Finanzen und Verwaltungsreform hat sich der Warenverkehr (Ein- und Ausfuhren) am Übergang in der Region Guerguerat 2019 (66.677 Mio. Tonnen) im Vergleich zum Vorjahr (20.803 Mio. Tonnen) mehr als verdreifacht hat. Die Lieferungen gehen neben Mauretanien in mehrere Länder südlich der Sahara: in die Elfenbeinküste, nach Guinea, Guinea-Bissau, Burkina-Faso, Senegal und Mali.


Handels- und grenzpolitische Interessen der EU

Die EU müßte nach ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen die Dekolonisierung der Westsahara und das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis unterstützen und dem Urteil des eigenen Gerichts folgen, keine Verträge mit Marokko über das besetzte Territorium ohne Zustimmung des sahrauischen Volkes zu vereinbaren. Sie unterläuft stattdessen diese Verpflichtungen und Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (C-104/16-P) und betrachtet Marokko auch hinsichtlich der Westsahara weiterhin als Vertragspartner.

Landwirtschafts- und Fischereiprodukte aus der Westsahara werden, fälschlich als marokkanische Produkte gekennzeichnet, in die EU importiert (siehe wsrw-report ‘Above the Law’, 03.12.2020), die Gewässer der Westsahara werden von der Fangflotte der EU mit Genehmigung durch und Bezahlung an Marokko befischt.

Bezüglich der Handelsstraße in der Region Guerguerat verfolgt die EU das Ziel, den Ausbau des Waren- und Personenverkehrs an dieser Stelle zu unterstützen, um den eigenen Handel

mit Mauretanien und weiteren Ländern zu sichern und auszubauen. Während der Blockade von Guerguerat im Oktober standen z.B. LKWs mit Fischladungen aus Mauretanien, die nach Spanien gebracht werden sollten, tagelang im Stau. Die Straße ist die einzige Handelsstraße, die entlang der westafrikanischen Küste mehrere Länder durchläuft und im Fährhafen von Tanger endet.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borell erklärte am 15. November 2020 anläßlich der Aufkündigung des Waffenstillstandsabkommens in einem Treffen mit den Außenministern Marokkos und Algeriens:

Der Hohe Vertreter legte auch besonderen Nachdruck auf die Erhaltung der Freizügigkeit und des grenzüberschreitenden Handels in der Region El Guerguerat und deren wichtige Auswirkungen auf die gesamte Maghreb- und Sahelregion, eine Region von strategischer Bedeutung“. Die Pläne Marokkos zum Ausbau der Handelsstraße, der Asphaltierung des fehlenden Teilstücks von ca. 1,5 Kilometer, sind seit Jahren bekannt. Interesse am Bau dieser Straße bekundete eine Delegation der EU, die im August 2019 zu Gast in Mauretanien war.

Die EU hat jedoch nicht nur wirtschaftliche Interessen an diesem Übergang, sondern auch sicherheitspolitische im Rahmen der europäischen Grenzpolitik.

Ende 2018 hat die EU hat mit Marokko vereinbart, dass das Land für die Verhinderung von ungewollter Migration insgesamt 232 Mio. Euro von der EU bekommt. Im Jahr 2018 wurden bereits 88.761 Menschen am Verlassen des Landes gehindert (Bericht der EU-Kommissionüber die Umsetzung der EU-Migrationspolitik, März 2019).

Ein neues länderübergreifendes Programm zur “Migrationssteuerung” soll auf den Weg gebracht werden, welches auch die Länder südlich von Marokko einschließt.

Neben diesen Programmen dient die 2.700 km lange Mauer der Westsahara, dazu, dass sie die Menschen von der Flucht nach Europa abhält. Diese Mauer ist durchgängig vermint und mit Kontrollposten in 1,5 Kilometerabstand bewacht. Ein Durchgang ist nur an wenigen im Waffenstillstandsabkommen festgehaltenen Stellen sowie beim illegalen, von Marokko nachträglich geschaffenen, Übergang in der Region Guerguerat möglich. Europa hat großes Interesse daran, dass Marokko den Übergang kontrolliert und ergo kein Interesse an einer Beseitigung der Mauer, welche aber im Zuge einer Lösung des Westsaharakonflikts nötig wäre.

Der UN-Generalsekretär hat am 13. November 2020 die Rückkehr zum Waffenstillstand in der Westsahara angemahnt. Seitdem ist von ihm oder der MINURSO abgesehen von der Bestätigung von Kämpfen nichts mehr veröffentlicht worden.

Weder die UN noch die EU üben öffentlich wahrnehmbaren Druck auf Marokko aus. Weder kritisieren sie die Öffnung der Mauer, noch deren Verlängerung in der Pufferzone und noch erkennen sie die direkte Verantwortung für den Zusammenbruch des Waffenstillstands.

Diese Passivität scheint kein Zufall zu sein, haben doch sowohl die UN als auch die EU deutlich gemacht, dass sie den freien Personen- und Warenverkehr in Guerguerat als wichtig erachten. Jedoch ist das nur unter Verletzung des Waffenstillstandsabkommens durch Marokko möglich.


Völkerrechtswidriger Vorstoß der USA

Dramatischer Höhepunkt der Abkehr vom Völkerrecht ist die Erklärung der völkerrechtswidrigen Anerkennung der “Souveränität Marokkos über die gesamte Westsahara” durch die US-Administration am 11. Dezember 2020.

Öffentlich verurteilt wird dieses Vorgehen bisher lediglich von den UN-Mitgliedstaaten Russland, Südafrika und Algerien. Irland, Schweden und Großbritannien betonten, dass der von der UN-geführte Prozess im Sinne des Selbstbestimmungsrecht des sahrauischen Volkes

fortgesetzt werden sollte. Deutschland, Österreich und Neuseeland äußerten, dass sie an ihrer Position einer politischen Lösung im Rahmen der UN festhalten. Von der EU- Kommission gibt es keine Stellungnahme.

Am Tag nach Trumps Proklamation verabschiedete die UN-Vollversammlung eine explizite Bekräftigung des Selbstbestimmungsrechts des sahrauischen Volkes mit Bezug auf die Resolution (1514) von 1960 zur Dekolonisierung der Völker. UN-Generalsekretär Antonio Guterres äußerte sich am 12. Dezember 2020 am Rande einer Pressekonferenz, dass die Lösung des Westsaharakonflikts nicht von der Anerkennung eines einzelnen Staates, sondern von der Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrates abhänge. Die UN seien Herr des Verfahren.

Dies stellt jedoch ebenfalls keine gute Aussicht für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts dar. Schließlich wurde in der letzten Resolution vom Oktober 2020, die von den USA maßgeblich entwickelt wurde, das Referendum gar nicht mehr als Ziel angeführt.

Bei allem politischen Unwillen bzw. pro-marokkanischen Machtverhältnissen innerhalb der Institutionen sind EU und UN-Sicherheitsrat nichtsdestotrotz verpflichtet, sich für die Durchsetzung des Völkerrechts und damit des Selbstbestimmungsrechts des sahrauischen Volkes einzusetzen.

Daran müssen sie erinnert und gemessen werden.

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Stand: 21.12.2020